Stand Dezember 2010
Weichen für die Berlinale
Die Berlinale gehört neben Cannes, Venedig und natürlich der Oscar-Verleihung in Los Angeles zu den
internationalen Festivals, auf denen entschieden wird, ob ein Spielfilm weltweit in die Kinos kommt oder in der Versenkung verschwindet und damit den Machern meist erhebliche
finanzielle Verluste beschert. Top oder flopp, das wird in Erkner mit entschieden!
Der Filmjournalist Ralf Schenk (gr. Foto) gehört zum exklusiven Dutzend von Fachleuten, die jeden Herbst von Dienstag bis Freitag beruflich nach Berlin ins Berlinale-Kino gehen. „Wir sehen uns dort insgesamt mehrere hundert Filme an, die für den Wettbewerb der Berlinale eingereicht wurden. Unsere Vorauswahl hilft Festivalleiter Dieter Kosslick bei der Entscheidung, welche Filme in den Wettbewerb kommen“, berichtet Schenk. „Er ist an unsere Auswahl nicht gebunden, richtet sich aber in der Regel danach.“
„Bal“ als persönlicher Favorit
Was auf der nächsten, mittlerweile 61. Berlinale vom 10. bis 20. Februar 2011 auf die Jury zukommt, wurde also von dem Erkneraner Ralf Schenk erheblich mit bestimmt. Man darf gespannt sein, ob die Jurypräsidentin, das ist diesmal die amerikanisch-italienische Schauspielerin und Regisseurin Isabella Rosselini, wieder einen Film mit dem Goldenen Bären auszeichnet, der Ralf Schenk bei der Vorauswahl besonders gut gefallen hat. Bei der 60. Berlinale hatte sich die Jury unter Vorsitz des deutschen Regisseurs Werner Herzog  für den türkischen Film „Bal“ entschieden. „Das war mein Favorit“, schmunzelt Ralf Schenk.
Für Ralf Schenk war die Berufung in die Auswahlkommission der Berlinale im Jahr 2004 eine schöne Bestätigung
seiner bisherigen Arbeit. Der 54-Jährige gehört zu den wichtigen Filmjournalisten in Deutschland. Er gilt als Spezialist besonders für die DEFA und den osteuropäischen Film.
Auslöser fürs lebenslange Eintauchen in die Traumwelt auf Zelluloid war ein Dachboden-Fund im Haus der Eltern im kleinen Ferienort Gehlberg in Thüringen. Dort stieß Schenk als kleiner Junge auf einen Stapel vergilbter Kino Programmhefte. „Ich versuchte wie ein Detektiv, mehr über die genannten Schauspieler und Regisseure herauszubekommen.  Ich nutzte fortan jede Gelegenheit, ins Kino zu gehen.“
Kinokritik mit Zwölf
Mit Zwölf verfasste er seine ersten Filmkritiken, mit 17 konnte er in der Suhler Tageszeitung „Freies Wort“ seine Bewertungen veröffentlichen. Für den Traumberuf Filmjournalist belegte er den entsprechenden Studiengang an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Fast wäre ihm dort sein Talent zum Verhängnis geworden: „Nach dem Abschluss wollte ich natürlich zu einer Filmzeitschrift. Stattdessen erhielt ich das Angebot, außenpolitischer Journalist zu werden.“ Schließlich erstritt er sich einen Arbeitsplatz als Redakteur der Berliner Zeitschrift „Film und Fernsehen“. „Später war ich bei der ‚Weltbühne‘ und der ‚Wochenpost‘ in Berlin für Filmkritiken zuständig.“
DEFA-Geschichte
Nach der Wende nahm ihn das Filmmuseum Potsdam unter Vertrag um die DEFA-Geschichte aufzuarbeiten. Das tat er, gründlich und erfolgreich. Von Ralf Schenk gibt es mittlerweile 19 Bücher, die sich mit der Geschichte des Films in der DDR, mit den DEFA-Schauspielern und Regisseuren, mit dem Dokumentarfilm in der DDR und anderen Einzelthemen beschäftigen. Zur Zeit arbeitet er an einem Buch über den 70-Millimeter-Film, das Kino der großen, breiten Leinwand, das es von 1967 bis 1974 auch in der DDR gab. „Dafür mussten mit enormem Aufwand eigene Kameras und Projektoren konstruiert werden. Nur in den USA und der UdSSR wurde noch an diesem Projektgearbeitet. Schließlich stand in jeder Bezirksstadt ein entsprechendes Vorführgerät.
Allerdings gab es nur wenige eigene 70-mm-Filme, weil jede einzelne Produktion große Teile des gesamten DEFA-Jahresetats verschlungen hätte.“ Spannend findet Schenk auch die Untersuchung, inwieweit die vom NS-Staat geprägten Strukturen und Personen der UFA die DEFA als direkte Nachfolgerin beeinflussten. „Viele UFA-Leute arbeiteten ja hier nahtlos weiter.“
Das Detailwissen über die „Traumfabrik der DDR“ machte den Erkneraner interessant für Fernsehsender. Für ORB und MDR erarbeitete er Dokumentationen über den Studiobetrieb in Potsdam und die DEFA-Hintergründe.
Verbotene Filme
„DEFA-Filme standen häufig im Spannungsfeld der Politik. Natürlich versuchten DDR-Regisseure das
Alltagsleben einzubeziehen und Missstände aufzuzeigen. Das führte gelegentlich zu politischen Auseinandersetzungen mit den Auftraggebern von Staat und Partei, die manchmal sogar bis zum Verbot führten.“
Derart „verbotene“ Filme wurden zu seiner neuen Aufgabe. Die 1998 gegründete DEFA-Stiftung, die das Erbe der DDR-Filmproduktion betreut, beauftragte Ralf Schenk damit, aus den in unzähligen Filmdosen im Bundesfilmarchiv schlummernden Zelluloid-Schnipseln einige dieser „Kellerfilme“ zu vollenden. Damit schrieb Erkner in einem weiteren Sektor Filmgeschichte. Der Anstoß dazu kam von  Wolfgang Klaue, der ebenfalls aus Erkner.  stammt. Der langjährige Direktor des Staatlichen Filmarchivs der DDR war bis 2003 Vorstand der DEFA-Stiftung.
Fräulein Schmetterling wurde abgeschmettert
Zu den unter Federführung von Ralf Schenk restaurierten Filmen gehört „Die Schönste“ von Ernesto Remani. „Der Film wollte das Leben einer bürgerlichen Familie in West-Berlin aufs Korn nehmen und wurde verboten, weil er angeblich den Westen in zu schönen Bildern zeigte“, weißt Ralf Schenk.
Andere Filme waren ein Opfer politischer Veränderung geworden. Im Dezember 1965 läutete die SED im Zuge des Wechsels vom Tauwetter zur ideologischen Eiszeit in der UdSSR das
Ende einer kurzen Liberalisierungsphase ein. Besonders Erich Honecker, der als Sicherheitssekretär des ZK der SED 1961 maßgeblich zum Bau der Berliner Mauer beigetragen hatte, setzte sich auf dem berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED für eine rigoros linientreue Kulturpolitik ein. „Damals wurden zahlreiche Bücher und Filme verboten. Darunter war ‚Fräulein Schmetterling‘ von Christa Wolf und Gerhard Wolf und dem Regisseur Kurt Barthel.“ Christa Wolf war schon damals eine anerkannte Schriftstellerin, Mitglied der Akademie der Künste und Kandidatin des ZK der SED. Ihr 1965 abgeschmettertes Filmprojekt „Fräulein Schmetterling“ erlebte 2005 seine Uraufführung. Der Progress Film-Verleih, der die DEFA-Filme vermarktet, beschreibt ihn als „poetisches Gegenwartsmärchen über das Lebensgefühl junger Leute“ im Jahr 1965.
Keller voller Filme
Ralf Schenk hat soviele Filme gesehen, wie nur wenige Menschen. Der Keller seiner Doppelhaushälfte quillt über von DVDs, Videokassetten und Filmbücher.
Was macht für ihn einen guten Film aus? „Es gibt in jedem Genre immer wieder interessante Filme. Zur Zeit finde ich das Kino aus Südamerika besonders innovativ. In Ländern wie Mexiko und Argentinien entstehen sehr spannende Filme. Nach wie vor ist Polen ein wichtiges Filmland. In China dagegen ist diese Phase schon wieder vorbei, dort gibt es nun wieder politisch korrektes Kino. Dafür lassen die Produktionen aus Japan und Südkorea aufhorchen. Das wichtige an einem Film ist für mich, dass er das Lebensgefühl seiner Zeit einfängt und dafür eine adäquate Form findet. Das kann in Komödien und Thrillern ebenso geschehen wie in anspruchsvollen
Gesellschaftsdramen.“
Seine Empfehlung für die kommende Berlinale gibt er natürlich, leider, nicht preis. Aber man kann sicher sein, dass er dafür sorgt, dass selbst Hollywood-Starschauspielerin Isabella Rosselini, die berühmte Tochter von Ingrid Bergmann und Roberto Rosselini, in Berlin viel Überraschendes und Neues entdeckt. Sie selbst sorgte übrigens als Regisseurin in
Berlin 2008 für eine handfeste Überraschung.
In ihrem Film „Green Porno“ beschäftigte sie sich mit dem Sexualleben von Regenwürmern, Bienen und Schnecken und spielte darin viele der Tiere selbst – sicher nicht nach jedermanns Geschmack, aber mal etwas ganz Neues!
Infos:
Tel. 01 60/1 50 56 43
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